Gegen extreme Armut kämpfen, was heißt das?

François-Jomini-DieBrücke

Der folgende Text von Joseph Wresinski steht als Leitartikel in der Revue Igloos, Nr. 44, Januar-Februar 1969, mit der Bemerkung: „Gedanken zur bevorstehenden Ausstrahlung einer Reportage über eine Notunterkunft in der Nähe von Paris im Rahmen der Sendung ‚Choses vues‘ (im März 1969) “. Der Autor befürchtet, dass die rohen und realistischen Bilder dieser von Roger Stéphane gedrehten Fernsehreportage die Zuschauer schockieren könnten. Er schreibt: „Diese Reportage zeigt zum ersten Mal das schmerzhafte Gesicht des Elends in der westlichen Welt, ohne die Schminke des Mitleids“. Abschliessend unterstreicht er noch einmal, dass extreme Armut schockierend sei, dass sie aber nicht dazu führen dürfe, die Hoffnung zu verlieren.
Mehr als 50 Jahre später hat dieser Text nichts von seiner Brisanz eingebüßt.

Hoffnung – Verzweiflung,
Erleichterung – Überforderung,
Erfolg – Schwierigkeit,
Hoffnung – Enttäuschung,
immer wieder auf seine Illusionen zurückkommen,
immer wieder seine Enttäuschungen hinunterschlucken,
das heißt gegen extreme Armut zu kämpfen.

Trotz allem die Fähigkeit zum Staunen bewahren,
weil auch sie Menschen sind,
glauben, weil sie Menschen sind, dass es ihnen letztendlich gelingt, dem Elend zu entkommen, dass es ihnen gelingt,
ihre eigenen Herausforderungen zu bewältigen,
die geprägt sind von:
Glück und Pech,
Freude und Leid,
Maßloser Hoffnung und herber Enttäuschung…

Sicher sein, dass ein Wunder geschehen wird
und auf die Tage der Spannungen, des Zorns und der Gewalt
immer öfter Zeiten folgen werden,
die geprägt sind von Verständnis, Austausch und Zuneigung.
Davon überzeugt sein, weil sie Menschen sind.
Wider allen Anschein glauben,
dass es wahr ist und dass sie ihre Menschlichkeit
voll und ganz verwirklichen werden.
Dass sie ihren Angehörigen in Frieden begegnen
und Freude, Glück und Zärtlichkeit bringen werden.
Dass sie mit ihren schwachen Armen,
mit ihrem von Entbehrungen und Verletzungen gezeichneten Körper anderen helfen werden.

Überzeugt sein, dass sie in Beziehung treten können
mit Größerem als sie,
mit Besserem als sie,
mit Wahrerem als sie,
mit Schönerem als sie.
Daran glauben, dass ihre so oft enttäuschten,
verhöhnten, zurückgewiesenen, gedemütigten,
ja verratenen Herzen
ihren Anteil an der Liebe haben werden.
Und sogar sicher sein (warum eigentlich nicht?),
dass ihre Seele beten wird,
das heißt gegen extreme Armut zu kämpfen.

Von ihrer Zerrissenheit zerrissen werden,
von ihrer Wunde verwundet,
die Qual ihrer Schmach durchmachen,
aufgerieben durch ihre Niederlagen,
hoffen mit ihrer Hoffnung,
lieben mit ihrer Liebe,
beten mit ihrem Gebet,
um zusammen mit ihnen
dem Unglück die Stirn zu bieten,
um es zu vertreiben und zu vernichten,
das und nicht weniger bedeutet es, das Elend zu beseitigen.

Wer es nicht bei Ideen,
Absichten und Wünschen
bewenden lässt,
sondern den Preis
für Freiheit und Gerechtigkeit,
für Rechte und Einfluss zahlt,
entfacht in der Menschheit eine Nächstenliebe,
die alle Menschen einschließt.

Aus dem Französischen übertragen von Rosemarie Hoffmann und Marie-Rose Blunschi, Januar 2022 für die Website des Joseph Wresinski Zentrums