Ein ehrgeiziges, mutiges und innovatives Projekt

Brief an die Freunde in der Welt No. 104, Dezember 2020

Aus dem Leitartikel der Generaldelegierten der internationalen Bewegung ATD Vierte Welt, Isabelle Perrin:

Überall auf der Welt entwickeln Frauen, Männer und Kinder einen unglaublichen Mut und Einfallsreichtum, um unter extrem schwierigen Umständen ihr Leben zu gestalten. Ist uns bewusst, dass diese hinter «Mauern der Armut» lebenden Menschen sich sehr wohl mit der übrigen Welt auseinandersetzen? Traut man ihnen Intelligenz und Reflexionsfähigkeit zu, die Fähigkeit zur Entwicklung von Projekten, von politischen Massnahmen, für das Zusammenleben, um die heutigen Herausforderungen der Menschheit anzugehen?

Joseph Wresinski hat nicht nachgelassen, uns stets darauf hinzuweisen, dass von Armut betroffene Menschen unverzichtbare Partner in unserer Auseinandersetzung mit der Zukunft sind. Ihr Beitrag ist unersetzbar. Unsere partizipative Forschung «Die verborgenen Dimensionen der Armut», die von ATD Vierte Welt in Zusammenarbeit mit der Universität von Oxford erstellt wurde, zeigt es eindrücklich. Die Teilnahme Armutsbetroffener an dieser Forschungsarbeit, deren anspruchsvolle Methode konsequent das akademischeWissen mit dem der Praktiker*innen gleichsetzt, erlaubte es, die Dimensionen der Armut zu benennen (…), denen in den politischen Programmen der Armutsbekämpfung bisher viel zu wenig Rechnung getragen wurde. (…)

Die Forschungsarbeit zeigt die Hindernisse in der Beseitigung der Armut auf und weist auf ein Paradox hin: Menschen in Armut sind immer am Kämpfen, doch ihr Ausgeschlossensein verhindert, dass ihr Widerstand und Kampf die Gesellschaft als Ganzes erreicht und jene gesamtgesellschaftlichen Veränderungen hervorbringt, die sie für ihre Kinder und die kommenden Generationen anstreben.  (…)

Diese fundamentale Ungerechtigkeit zu beenden, setzt voraus, dass die Armut in all ihren Dimensionen erfasst wird und dass gemeinsam mit denen, die sie erleiden, gedacht und gehandelt wird. (…)

Aus dem Hauptartikel:

Neun Dimensionen:  Drei davon sind bekannt und sechs wurden durch die Studie erarbeitet.
Zu den drei bekannten Dimensionen – Mangel an menschenwürdiger Arbeit, unzureichendes bzw. unsicheres Einkommen, materielle und soziale Benachteiligung – kommen sechs weitere, zu selten in Betracht gezogene Tatsachen:
– Drei Dimensionen der gesellschaftlichen Beziehungen, die sich damit befassen, wie Menschen, die nicht selbst mit Armut konfrontiert sind, das Leben derer beeinflussen, die es sind: soziale Misshandlung, institutionelle Missbranch und Nichtanerkennung erbrachter Leistungen.
– Drei Dimensionen, die zu oft nicht genannte Aspekte der Armutserfahrung aufdecken: Körperliches, geistiges und seelisches Leiden, Kampf und Widerstand, Entzug der Handlungsbefugnis.»

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