Was ist Armut und gibt es sie auch bei uns?
Armut verstehen
Bei Armut denken viele Menschen an Situationen in weit entfernten Ländern und haben dabei Bilder von Slums, Hungersnöten oder Naturkatastrophen vor Augen. Absolute Armut betrifft über eine Milliarde Menschen und ist eines der größten sozialen Probleme der Menschheit.
Doch gibt es Armut auch bei uns ?
Im Februar 1987 legte der Gründer von ATD Vierte Welt, Joseph Wresinski, dem französischen Wirtschafts-und Sozialrat einen Bericht über „Extreme Armut und wirtschaftliche und soziale Prekarität“ vor, in dem er den Unterschied zwischen prekärer Lage und extremer Armut folgendermaßen beschrieb:
« Die Prekarität zeichnet sich durch die Abwesenheit einer oder mehrerer all derjenigen Sicherheiten – insbesondere der Arbeitssicherheit – aus, die Individuen und Familien ermöglichen, ihren beruflichen, familiären und sozialen Pflichten nachzukommen sowie ihre Grundrechte wahrzunehmen. Die wirtschaftliche und soziale Unsicherheit, die daraus resultiert, kann mehr oder weniger umfassend sein sowie mehr oder weniger schlimme und endgültige Konsequenzen haben. Sie führt zur extremen Armut, wenn sie 1) mehrere Lebensbereiche schwer belastet, 2) sich zu einem dauerhaften Zustand entwickelt, 3) die Chancen beeinträchtigt, durch die der Mensch seiner Verantwortung nachkommen und seine Rechte selbst geltend machen kann – und zwar in absehbarer Zukunft. »
Im „2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung “ aus dem Jahr 2005 heißt es:
„In Gesellschaften wie der unseren liegt das durchschnittliche Wohlstandsniveau wesentlich über dem physischen Existenzminimum. Hier ist ein relativer Armutsbegriff sinnvoll, um Problemlagen angemessen zu erkennen. (…) Auch wenn Armut eine mehrdimensionale, also nicht nur finanzielle Benachteiligung darstellt, kann von den verfügbaren finanziellen Mitteln indirekt darauf geschlossen werden, welches Maß an gesellschaftlicher Teilhabe gelingt.“
Armut wird in diesem Sinne als eine „auf einen mittleren Lebensstandard bezogene Benachteiligung aufgefasst.“ Als arm gilt, wer weniger als 60% des durchschnittlichen Einkommens bezieht. Dies betrifft über 10 Millionen Menschen in Deutschland.
Nicht jeder davon Betroffene erlebt sich als arm, aber viele Menschen erleben ihre Situation als große Not.
Armut erleben
Der Bericht der Bundesregierung weist zu Recht darauf hin, dass Armut mehr bedeutet als eine finanzielle Benachteiligung.
Ohne entsprechende Mittel ist die Teilnahme am gesellschaftlichen Zusammenleben erschwert: Der Eintritt ins Museum, das Schwimmbad oder ins Kino werden unerschwinglich. Dies kann dazu führen, dass Erwachsene sich aus ihrem Freundeskreis zurückziehen oder Kinder von ihren Klassenkameraden ausgeschlossen werden, weil sie nicht mehr mithalten können.
Wenn Armut darüber hinaus andauert und sich verfestigt, wenn neben der Existenzsicherung weitere Lebensbereiche wie Wohnung, Bildung, Gesundheit, Kultur, soziale Beziehungen beeinträchtigt werden, dann verwehrt Armut den betroffenen Menschen, sich in ihrer ganzen Würde und all ihren Fähigkeiten entfalten und an der Gesellschaft teilhaben zu können. Tiefe Armut stellt ein soziales Erbe dar, welches den betroffenen Menschen kaum ermöglicht, aus eigener Kraft den Anschluss an die Gesellschaft zu gewinnen.
Wenn Armut jedoch nur als Mangel verstanden wird, dann werden auch die Betroffenen zunächst nur als Menschen wahrgenommen, denen etwas fehlt, denen man helfen, oder die man erziehen muss. Wie ein Betroffener sagt: „Das Schlimmste ist, dass immer ANDERE für uns denken, sprechen und entscheiden.“
Die Erfahrung, vom Wohlwollen anderer abhängig zu sein, das Gefühl, weniger zu zählen als andere, nagt am Selbstwertgefühl. Nur so lässt sich die Frage einer allein erziehenden Mutter verstehen: „Was für ein Vorbild bin ich Arbeitslose für meine Kinder ?“
Dabei braucht es im Gegenteil viel Energie, Mut, Fantasie und Widerstandskraft, um mit begrenzten Mitteln seinen Alltag zu gestalten, für eine Familie zu sorgen, die Kinder zu erziehen und sich nicht hängen zu lassen und aufzugeben.
Wenn dies gesehen und anerkannt wird, verändert sich die Sichtweise auf Armutssituationen. Beziehungen sozialer Ungleichheit weichen einem gleichberechtigten Dialog. Die Betroffenen können mit ihren Erfahrungen zu Lösungen für sich und andere beitragen. Sie gewinnen Würde und Handlungsspielräume.
Armut : Wer sie kennt, kann aus Erfahrung sprechen
Ein paar Zitate von Armutsbetroffenen:
„Das Schlimmste an der Armut ist nicht, nicht genug Geld zu haben, sondern die fehlende Anerkennung, keinen Platz in der Gesellschaft zu haben.“
„Armut bedeutet, im Verborgenen zu bleiben, lügen zu müssen und so tun als ob.“
„Armut bedeutet Hilfe zu brauchen, aber sich schämen müssen, darum zu bitten.“
„Armut bedeutet, dass jeder denkt, mir Ratschläge erteilen zu müssen, nur weil ich Hilfe brauche.“
„Das Schlimmste an der Armut ist, sein Leben ans sich vorbeiziehen zu sehen.. „
Armut überwinden
Armut ist nicht unabänderlich: „In diesem Zeitalter beispiellosen Reichtums und technischen Könnens, haben wir zum ersten Mal in der Geschichte die Macht, die Menschheit von dieser beschämenden Geißel zu befreien. Wir müssen nur den Willen dazu aufbringen.“
Kofi Annan, UNO-Generalsekretär, 17. Oktober 2002
Armut ist auch kein individuelles Schicksal, sondern eine Herausforderung an die Gemeinschaft der Menschen. Wenn man Armut wie der Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen als „Mangel an Verwirklichungschancen“ betrachtet, als Einschränkung der Möglichkeiten, sich seinen Fähigkeiten entsprechend entwickeln und frei handeln zu können, wird sie als Verletzung grundlegender Menschenrechte erkennbar.
„Wo immer Menschen dazu verurteilt sind, im Elend zu leben, werden die Menschenrechte verletzt. Sich mit vereinten Kräften für ihre Achtung einzusetzen, ist heilige Pflicht.“ Père Joseph Wresinski (Aufschrift auf der am 17. Oktober 1987 eingeweihten Gedenkplatte auf dem Trocadéro Platz in Paris)
Tiefe Armut wird überwunden werden, wenn sie von allen Menschen als nicht tolerierbarer Angriff auf die Würde des Einzelnen und der Menschheit betrachtet wird.
Sie stellt unsere Demokratie in Frage. So weist die Bundesregierung in ihrem Bericht darauf hin: „Wenn bestimmte Personengruppen über längere Zeit vom gesellschaftlichen Leben ganz oder teilweise ausgeschlossen sind, steht der soziale Frieden auf dem Spiel.“