Baustein-Zeit 2020 in Haus Neudorf
„Stereotypen oder Ökologie“
Norbert Peter, Projektleiter, berichtet:
Ein wichtiger Höhepunkt im Vereinsleben sind die Baustein-Zeiten. Das Zusammenleben von Jugendlichen aus verschiedenen Ländern Europas und unterschiedlichem kulturellen und sozialen Hintergrund bedarf einer sorgfältigen Vorbereitung. Es gibt uns Anregungen für die weitere Arbeit und bereitet Freude, wenn wir sehen können, mit welchem Enthusiasmus die Jugendlichen dabei sind. Die Baustein-Zeit ist eines der am längsten existierenden Projekte von ATD Vierte Welt und Haus Neudorf. Es entstand aus dem Anliegen heraus, junge Menschen erleben zu lassen, dass sie und ihre Fähigkeiten, ihre Wünsche und ihre Meinung entdeckt werden können und geachtet sind.
In diesem Jahr war die Beteiligung, auf Grund der Corona-19 Pandemie, nicht so groß wie ursprünglich geplant. Mehrere Jugendliche, darunter sämtliche Teilnehmer aus Luxemburg, zogen es vor, aus Sicherheitsgründen nicht teilzunehmen. Bis wenige Tage vor der Durchführung war selbst uns noch nicht klar, ob wir das Treffen realisieren dürfen. Letztendlich hat es aber doch geklappt.
Besonders hat uns gefreut, dass 3 Jugendliche aus Hamburg, die bereits 2019 bei uns waren, unbedingt wieder kommen wollten. Sie haben Wort gehalten haben und waren auch in diesem Jahr dabei. Im Zeitraum vom 6. – 13. Juli hatten wir 13 Jugendliche, 1 Dolmetscherin und 2 Betreuer zu Gast. Schnell fanden sich die jungen Leute zusammen. Obwohl am ersten Tag noch deutlich zu sehen war, wer aus Polen und wer aus Deutschland kam, brach das Eis schnell. Beim Arbeiten, am Nachmittag bei den Gesprächsrunden und abends am Feuer entdecken die Jugendlichen viele Gemeinsamkeiten. Englisch hilft darüber hinweg, dass nicht jeder die Sprache der anderen versteht. Es gab keine „Grüppchenbildung“, alles erfolgte gemeinsam. Die Jugendlichen zeigen in ihren Gesprächen und Reaktionen, dass sie stolz auf ihr Heimatland sind. Sie scheuen sich nicht, sich auch mit der Vergangenheit, z. B. nach dem Besuch der Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen, mit der Gegenwart und der Zukunft auseinander zu setzen.
Das Thema unserer diesjährigen Baustein-Zeit „Stereotypen oder Ökologie“, war von den Vorbereitungsteams der Teilnahmeländer gemeinsam gewählt und für die heutige Zeit als relevant befunden worden. Die Arbeiten und Workshops wurden dementsprechend organisiert: Ein „Null-Abfall“ Workshop leitete dazu an, Taschen aus alten Gardinen und Stoffresten zu nähen. Solche Beutel können zum Einkaufen verwendet werden, z.B. für nicht verpacktes Gemüse und Obst, um die Verwendung von Einweg-Plastiktüten zu reduzieren. Die Teilnehmer hatten auch viele andere Ideen zur Verwendung von diesen „Gardinentaschen“. Dieser Workshop brach auch mit dem Stereotyp, dass Nähen eine eher weibliche Tätigkeit ist. Der männliche Teil der Teilnehmer nahm sehr bereitwillig daran teil.
Darüber hinaus bauten wir einen großen Kompostierer für Haus Neudorf, um die aus Abfällen der Küche, Rasenschnitt und dem Laub der vielen Bäume um das Haus gewonnene Erde wieder der Natur zukommen zu lassen.
Für den Ausbau des Dachbodens bauten die Jugendlichen unter der Anleitung von 2 Jugendlichen aus Hamburg, die in der Tischler-Ausbildung stehen, 2 Türen mit Rahmen.
Für die in die Jahre gekommenen und nicht mehr schön anzusehenden Scheunenfenster wurden neue Holzplatten angefertigt, diese wurden von den Jugendlichen nach eigenen Vorstellungen künstlerisch gestaltet und eingebaut.
Mit viel Muskelkraft, eigenen Ideen und fleißigen Händen vollbrachten alle Großes.
Neben Zeiten, manueller Arbeit, fanden Austausch und Diskussionen statt. Einen guten Anstoß dazu gab der Workshop „One Step – Step forward“. Jeder Teilnehmer übernahm dabei die Rolle eines der folgenden Menschen:
> eines 60-jährigen Mannes, der gerade seine Arbeit verloren hatte,
> einer arbeitslosen alleinerziehenden Mutter mit zwei heranwachsenden Kindern,
> einer 44-jährigen Frau, die Direktorin eines Transportunternehmens ist,
> eines 24-jährigen Mannes mit endlosen Studium,
> und einen Flüchtling aus einem vom Krieg zerrissenen Land.
Alle Teilnehmer starteten an derselben Linie. Der Spielleiter stellte Fragen, auf die hin die Teilnehmer in ihrer gespielten Rolle reagieren sollten: Wenn sie sich diskriminiert oder benachteiligt fühlten, blieben sie stehen, wenn nicht durften sie einen Schritt nach vorne gehen. Am Ende des Spiels konnte man sehen, wer nicht oder nur mühsam von der Stelle kam und dadurch das Gefühl hatte, von der „Gesellschaft“ zurückgelassen worden zu sein.
Es folgte ein Austausch über Stereotypen, Diskriminierung und soziale Ungleichheit, in denen Reaktionen geäußert wurden wie:
„Warum habe ich als Flüchtling nicht das Recht, an Wahlen teilzunehmen? Warum wird meine Meinung nicht angehört bei Fragen der Flüchtlingspolitik, da ich als Betroffene*r doch hilfreich sein könnte?“
„Als alleinerziehende Mutter fehlt mir das Geld, um mit meinen Kindern am kulturellen Leben teilnehmen zu können. Wir können uns keinen Urlaubsplatz leisten.“
Die „Direktorin des Transportunternehmens“ ist der Meinung, „jeder ist für sein Leben selbst verantwortlich und sollte die Schuld für seine Situation nicht den Arbeitgebern oder den Politikern zuschreiben. Wer arbeiten will, findet auch Arbeit!“
„Bis zum Zeitpunkt meiner Entlassung aus dem Job konnte ich ein normales Leben führen, mit 60 Jahren finde ich keine Arbeit mehr und muss mein Leben total einschränken. Ich habe Angst vor der ungewissen Zukunft.“
Eine willkommene Abwechslung und Zeit für Erholung und auch um Neues zu entdecken, bot der Tagesausflug nach Berlin. Nach einer gemeinsamen Besichtigung der bekanntesten Sehenswürdigkeiten, der Besuch des Holocaust Museum, Checkpoint Charlie, Mauermuseum, Pariser- und Alexanderplatz hat jeder im Anschluss die Möglichkeit, selbst auf Entdeckungs- oder Shopping-Tour zu gehen und Berlin nach seinen eigenen Vorstellungen zu entdecken.
Die Jugendlichen waren stets mit Freude dabei, niemand sonderte sich ab. Am Ende der Baustein-Zeit brachten die Jugendlichen zum Ausdruck, dass sie es bedauerten, dass die Zeit so schnell vergangen ist. Sie fanden positiv, dass sie sich in den Workshops einbringen konnten, dass das Programm des Treffens flexibel war und stets an die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Teilnehmer angepasst wurde. Viel Freude bereitete ihnen die vielen Fotos und die kleinen Filmbeiträge, die am letzten Tag bei der Auswertung unseres Treffens gezeigt wurden.
Die gute Vorbereitung im Leitungsteam, und vor allem mit den Jugendlichen selbst, hat sich ausgezahlt. Es gibt ehemalige Teilnehmer, die in Verbindung mit uns geblieben sind und gerne wieder kommen. So haben die 3 Jugendlichen aus Hamburg, die zum zweiten Mal teilnahmen, ein Paket für Adam N. aus Polen mitgebracht, mit dem sie sich beim Treffen 2019 kennengelernt und befreundet hatten. Die polnische Gruppe versprach, dieses Paket Adam, der kurz vor dem Treffen hatte absagen müssen, zu überbringen. Solche Zeichen der freundschaftlichen Verbundenheit bezeugen, dass der Austausch zwischen Jugendlichen aus Polen, Deutschland und anderen Ländern prägende Wirkung haben kann.
Die Baustein-Zeit hat auch in diesem Jahr Teilnehmern und Verantwortlichen viel Freude bereitet und alle zusammen stolz gemacht.
Die Baustein-Zeit wurde wie in den vergangenen Jahren durch das Deutsch-Polnische Jugendwerk finanziell unterstützt.