Die wichtigste Frage ist das Vertrauen
Beitrag von Nelly S., ATD Basismitglied aus der Schweiz
zur Eröffnung der vom Heidelberger Bündnis gegen Armut und Ausgrenzung organisierten Aktionswoche mit dem Titel: „Reich an unsichtbarer Armut“.
Der UNO-Welttag zur Überwindung der Armut wurde von einem katholischen Priester, Père Joseph Wresinski, eingeführt im Namen aller Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen oder sind, Erwachsene, Kinder, Jugendliche, einfach alle, die vergessen worden sind.
Père Joseph wollte allen eine Stimme geben, eine Zugehörigkeit, um dem Elend zu entfliehen. Für diesen Aufruf hat er am 17. Oktober 1987 in Paris eine Welttafel einmeisseln lassen mit der Botschaft: Wo immer Menschen dazu verurteilt sind, im Elend zu leben, werden die Menschenrechte verletzt. Sich mit vereinten Kräften für ihre Achtung einzusetzen ist heilige Pflicht.“ Danach hat die Uno 1992 diesen offiziellen Tag zur Überwindung des Elends ausgerufen. Und so machen wir uns jetzt zusammen auf den Weg zum 17. Oktober.
Jahr für Jahr ist der 17. Oktober ist auch ein Tag des Friedens, wo man den nicht Gehörten ein Gehör gibt und den stumm Gemachten eine Stimme, damit sie selbst nicht vergessen, dass sie Menschen sind, dass sie zu dieser Welt gehören, dass sie Teil einer Gemeinschaft sind.
Was hat uns Père Joseph hinterlassen?
Zuallererst hat er nicht nur über das grosse Elend geredet. Er hat die Armut selbst erlebt. Er kannte sie schon als Kind, und hat später sein Leben mit uns geteilt. Er lebte als Priester mit den Familien zusammen, die in einem Obdachlosenlager nahe bei Paris untergebracht waren. Mit ihnen hat er 1957 die Bewegung ATD Vierte Welt gegründet. Er war der Einzige, der mit den im Elend lebenden zusammen, nicht für sie sondern mit ihnen, für eine bessere Zukunft kämpfte.
Durch die Begegnung mit einem Mitarbeiter habe ich vor vierzig Jahren diese Bewegung kennengelernt, und mit der Zeit begegnete ich auch Père Joseph. Ich staunte nicht schlecht als er mir sagte:
„Du bist ein Mensch dieser Welt, du hast das Recht auf dieser Welt zu leben wie jeder Bürger dieser Welt.“
Bis dahin war das das erste Mal, dass mir jemand sagte, dass ich nicht zu viel bin auf dieser Welt.
Aber einmal bei einer andern Begegnung, machte Père Joseph einen Aufruf: dass er Freiwillige suchte für nach Afrika. Ich sagte mir: „Nicht schon wieder!“ Denn die Kirchen sammelten Geld für Afrika, ja ich wusste das es Afrikaner gibt, aber ich dachte dass die Kirche Geld sammelt damit auch Afrikaner Priester werden können, und dass sie nur in der Uni von Freiburg studieren könnten. Wir Armen waren aber hier, wir lebten hier in der Schweiz und nicht in Afrika.
Später habe ich es verstanden, dass Père Joseph aus uns ein Volk der Zusammengehörigkeit machen wollte. Ja wir sind ein Volk dieser Erde geworden und bauen auf den Frieden.
Ich bin sehr stark beeindruckt von diesem einfachen Priester, der so Grosses bewirkt hat. Von Frankreich, der Schweiz, Amerika, Afrika, Asien bis zuletzt nach China. Was uns Arme auch stolz macht, ist dass Père Joseph seine Wurzeln nie verleugnet hat. Er wollte ein Priester sein für und mit den Armen.
Père Joseph hat nicht nur Aktionen unternommen. Er hat mit uns eine Geschichte aufgebaut. Er wollte etwas hinterlassen, wo man nicht einfach so darüber hinweggehen kann. Etwas, das auch nach seinem Tode bleibt.
So hat er uns am 17. Oktober 1987 versammelt, nicht irgendwo, sondern ausgerechnet am Trocadero in Paris, dort, wo 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet wurde: Arme und Reiche, 100 000 Verteidiger der Menschenrechte aus aller Welt. Zusammen haben wir den Opfern von Hunger, Unwissenheit und Gewalt Ehre erwiesen. Wir haben unserer Überzeugung Ausdruck gegeben, dass Elend nicht unabänderlich ist. Wir haben unsere Solidarität mit all jenen Menschen bekundet, die irgendwo auf der Welt für die Überwindung des Elends kämpfen.
Père Joseph hatte vorher einem Bildhauer aufgetragen, einen Satz auf eine Marmorplatte zu meisseln. Er wollte mit dieser Inschrift das Gewissen der Menschheit aufrütteln: „Wo immer Menschen dazu verurteilt sind, im Elend zu leben, werden die Menschenrechte verletzt. Sich mit vereinten Kräften für ihre Achtung einzusetzen, ist heilige Pflicht.“
Mit dem Gedenkstein auf dem Platz der Menschenrechte in Paris sind wir in eine Geschichte eingetreten, die alle Menschen um diejenigen versammelt, die am meisten unter dem Elend leiden und die überall abwesend sind. Heutzutage sind wir noch mit Jugendlichen zusammen, die keine Zukunftsaussichten haben. Wir sind empört und gleichzeitig hilflos, wenn wir sehen, wie das sie kaputt macht.
Ein Bekannter hat, wenn alle Rechnungen bezahlt sind, gerade mal 30 Franken im Monat zur Verfügung. Auf der IV-Beratungsstelle bekam er eine Caritas-Karte. Er hat sie mir gezeigt, und ich habe ihm erklärt, dass er damit im Caritas-Laden einkaufen kann, aber dass er dazu Gutscheine braucht. Das hatte ihm niemand gesagt. Wir erhalten oft nicht die Auskünfte, die wir wirklich brauchen. Man gibt uns etwas, aber man erklärt uns nicht, was wir damit machen können. Oder jemand macht ein Gesuch für uns, aber es fehlen uns Informationen, um dann weiterzugehen. Durch das Unwissen, das wir haben, bleiben wir unten. So können wir nicht aufstehen und frei atmen.
Man nimmt uns das wenige, das wir haben, bis wir keinen Schnauf mehr haben. Es geht um Gerechtigkeit. Man muss uns ermöglichen, aufzustehen, damit wir unsere Würde wahrnehmen können. Dafür braucht es eine andere Politik und Menschen, die Einfluss haben und uns bei den Politikern Gehör verschaffen.
Da wo ich lebe, kommen immer weniger Leute zur Kirche. Sie spüren, dass sie nicht willkommen sind. Eine Bekannte, die im Altersheim lebt, kommt am Sonntag mit dem Zug, um am Gottesdienst teilzunehmen. Letzten Sonntag war nach dem Gottesdienst Teilete. Leider war niemand da, der ihr sagte: „Komm doch auch mit.“ Es waren drei Priester da, aber auch sie haben sie nicht eingeladen. Eine ältere Dame traut sich mit ihrem Rollator nicht mehr in die Kirche, weil sie ausgelacht worden ist. Ich frage mich: Wie können wir eine offene Kirche aufbauen, wo wirklich jeder willkommen ist?
Père Joseph ist so wichtig für mich, weil er sich dafür eingesetzt hat, dass die Armen auf der ganzen Welt nicht länger verachtet und an der Rand geschoben werden. Dafür hat er alle angesprochen, Arme wie Reiche, egal welche Religion, Gläubige wie Ungläubige. Denn jeder Mensch gehört dazu.
Die wichtigste Frage ist das Vertrauen. Ich kenne niemand anders als Père Joseph, der so grosses Vertrauen in uns im Elend Lebende hatte. Ich kenne die Angst der ärmsten Menschen vor den anderen, aber auch die Angst der Nicht-Armen gegenüber den Armen. Das wichtigste ist, dass Père Joseph Vertrauen zwischen den beiden geschaffen hat.
Dies hat uns auch ermutigt, ins politische Leben einzutreten, mit den Politikern zu sprechen. Niemand anders hatte vor ihm daran gedacht. Niemand anders kannte uns so wie er. Er hat einen Kampf aufgenommen, nicht um Macht zu bekommen, sondern um uns gegenüber und unter allen Vertrauen zu schaffen. Damit dies möglich wird, müssen wir unsere Sichtweise ändern.
Stehen wir alle auf und lernen, den Anderen nicht alleine zu lassen! Streckt Eure Hände weit aus! Denn jede Hand, die man zu einem Menschen hinstreckt, ist Gold wert!