Von der Machtlosigkeit zur Selbstbestimmung

Zeichnungen: Hélène Perdereau

Am 22. Dezember 1992, also vor 30 Jahren, hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen den 17. Oktober als Internationalen Tag zur Beseitigung der Armut anerkannt. Als das Internationale 17. Oktober-Komitee im Januar 2022 über das Thema der diesjährigen Feierlichkeiten abstimmte, wollte es eine zusätzliche Frage stellen: Was haben wir mit diesem Tag gewonnen oder auf welche Errungenschaften sind wir besonders stolz, wenn wir den 17. Oktober begehen? Welche Fortschritte es gibt, aber auch welche Herausforderungen noch zu bewältigen sind, können Sie im Brief an die Freunde in der Welt, No. 108, nachlesen.

Im Vorwort dazu schreibt die Vorsitzende des Internationalen Komitees des 17. Oktobers, Frau Aye Aye Win:

„Zur gleichen Zeit wie ich dieses Vorwort des hundertachten Briefes an unsere Freunde in der Welt verfasse, geht im ägyptischen Badeort Sharm-el-Sheik die 27. UN-Klimakonferenz der Vertragsstaaten COP27 zu Ende. Die Vertreter der über 190 Vertragsstaaten sollten hier ihr gemeinsames Programm zur Rettung unseres Planeten erarbeiten. Doch das Ungleichgewicht der globalen Mächteverhältnisse tritt deutlich zu Tage.
Die einkommensschwachen Nationen bekommen die Folgen des Klimawandels bereits heute am stärksten zu spüren. Verursacht wird die Umweltverschmutzung jedoch nicht durch sie, sondern vor allem durch die einkommensstarken Nationen.
Die Wiedergutmachung der Schäden und die Kompensation der Verluste, die durch den Klimawandel bedingt sind, hat nichts mit Wohltätigkeit zu tun. Es handelt sich vielmehr um Gebote der Gerechtigkeit – in unserem Zusammenhang der «Klimagerechtigkeit». Ebenso ist die Beendigung der Armut nicht eine Frage der Wohltätigkeit, sondern der sozialen Gerechtigkeit.
Es sind die mächtigsten Nationen, globale Konzerne und die Reichsten unserer Zivilgesellschaften, welche am stärksten von der gegenwärtigen politischen und ökonomischen Ordnung profitieren und mit ihrer Hilfe die eigene Machtstellung festigen. Dieses dysfunktionale und unethische System stellt die Profite der Unternehmen über das Wohlergehen der Menschen und den Schutz unseres Planeten. Sie geben den kurzfristigen Profiten von heute Vorrang und vernachlässigen die langfristigen Auswirkungen von morgen.
Armut ist nicht denjenigen anzulasten, die in Armut leben. Sie ist das Ergebnis bewusster politischer Entscheidungen, die den bereits benachteiligten Menschen ihre Rechte nicht gewähren, sie ausbeuten und ihnen ein würdevolles Leben verunmöglichen.
Wie ist die krasse Zunahme an Ungleichheit, die beispiellose Macht der Konzerne und der Reichtum der Milliardäre und der gleichzeitige Zerfall der Rechte der Arbeitnehmer und der Verlust von Arbeitsplätzen zu erklären? Wie kann es sein, dass in einer Welt, in der einerseits zu viel Nahrung produziert und darum verschwendet und weggeworfen wird, Millionen Menschen an Hunger sterben?
Wie kann es sein, dass es in Krisen, wie der Pandemie, dem Klimawandel oder verschiedenen politischen Konflikten, stets die bereits Ausgegrenzten sind, die am meisten leiden?
Warum verabschieden Regierungen angesichts der steigenden Lebenserhaltungskosten Sparmaßnahmen, welche die Bedürftigen disziplinieren und die Wohlhabenden schonen?
Aber es gibt Hoffnung. Zusammen können wir etwas ändern. Joseph Wresinski hat sich bewusst auf die Seite der Vernachlässigten gestellt. Er traf die bewusste Entscheidung, eine erste Gedenktafel an dem Ort anzubringen, wo die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet wurde. Das Konzept der Wohlfahrt lehnte er ab. Stattdessen bezeichnete er Menschen, die in Armut leben, als Bürgerinnen und Bürger, deren Grundrechte missachtet werden. Damit wechselt unser Blick auf Armut: es ist keine Situation der Schwäche sondern eine Haltung der Stärke; Menschen in Armut sind nicht machtlos sondern in der Lage Initiativen zu ergreifen.

Der 17. Oktober, der Welttag zur Überwindung der Armut ist das Symboldieses Wandels. Die Beiträge in diesem 108. Brief an die Freunde in der Welt, zeigen, wie die Vernachlässigten an diesem Tag das Schweigen brechen. Sie machen deutlich, wie diejenigen, die ein hartes Leben führen, sich Gehör verschaffen. Wir sind stolz auf die letzten dreißig Jahre unseres Gedenktages.
Im Blick auf die Zukunft müssen wir uns jeden Tag den Sinn und Geist des Gedenktages vor Augen führen. Wir müssen den politischen, sozialen, wirtschaftlichen, sowie intellektuellen und kulturellen Wirkungskreis der Vernachlässigten unserer Gesellschaft sicherstellen. Um die Armut zu beenden, müssen die gegenwärtigen Mächteverhältnisse gebrochen werden. Dazu ist notwendig, dass wir uns unserer eigenen Fähigkeiten bewusst werden. Mit dem 17. Oktober versuchen wir das scheinbar Unmögliche zur Realität zu machen.“

Den Brief an die Freunde in der Welt No. 108 hier herunterladen