Ein Ort um Lesen lieben zu lernen

Eine Praktikantin aus Frankfurt berichtet:

Liebe Leserinnen und Leser,

ich schreibe Ihnen aus dem Büro von ATD Vierte Welt in Brüssel. Von hier aus arbeite ich seit September im Rahmen meines Freiwilligen Sozialen Jahres, im Büro Jeunesse, welches sich die Organisation und Koordination rund um die Projekte mit und für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zur Aufgabe macht.

Dazu gehören auch die Straßenbibliotheken, über welche im Rahmen eines Filmprojektes gemeinsam mit Dylan, einem Aktivmitglied der belgischen Jugendgruppe, ein Video gedreht wurde, um das Projekt bildlich vorzustellen und darauf aufmerksam zu machen.

Mich persönlich hat das Video angeregt, die Straßenbibliothek, die ich mit leiten darf, kurz vorzustellen und meine Gedanken und Erfahrungen zu teilen.

Die „Bibliothèque de Rue“ – ein Ort um Lesen lieben zu lernen

Zu meinen regelmäßigen Aufgaben hier gehört die Vorbereitung und Gestaltung der Bibliothèque de Rue, also der Straßenbibliothek.

Jeden Mittwoch geht es für drei bis vier unseres Teams nach Molenbeek, ein Stadtviertel, auf welches man leider häufiger durch negative -Gewalt und Kriminalität dokumentierende- als durch positive Schlagzeilen aufmerksam wird.

Zwei Stunden verbringen wir dort im Freien neben einem offenen Koffer voller Bücher und lesen gemeinsam mit Kindern zwischen drei und zwölf Jahren Geschichten, Märchen, Comics oder suchen Gegenstände auf Wimmelbildern.

Ziel der Straßenbibliotheken ist es, Kindern außerhalb der Schule und abseits von Lerndruck oder Forderungen die Möglichkeit zu geben, ihre Fantasie, ihre Vorstellungskraft und ihr Interesse für die Bücher, aber auch für die Geschichten dahinter, zu entfalten.

Meine anfängliche Sorge, dass die Eltern durch mein noch brüchiges Französisch weniger Kontakt zu mir suchen würden, erübrigte sich schnell. Ganz im Gegenteil, häufig kommen Eltern, deren Muttersprache Arabisch oder Türkisch ist, von sich aus auf mich zu und erzählen mir, was ihnen Sorgen macht.

Auch die Kinder kommen auf mich zu, drücken mir ein Buch in die Hand und klopfen mit ihren Händchen neben sich auf die Decke. Ich setze mich also neben sie und lese ihnen von einem Goldenen Pinsel vor, einer Giraffe, die größer ist als ihre Freundinnen oder von einer Fabrik, die Wörter herstellt.

Wenn ich ein Wort nicht kenne und danach frage, erklären sie es mir stolz. Häufig ist es für sie das erste Mal, dass sie im Lesen oder in Französisch die Besten sind.

Es ist schön, dass die Bibliothèque de Rue, da es sich um eine Aktivität mit unter 12-jährigen handelt, nicht schließen musste. Uns ist es wichtig, den Kindern einen Alltag zu ermöglichen, in dem man die Pandemie auch mal vergessen darf, in dem es einen Ort gibt, an dem alles so ist wie immer.

Jarmila Horney

Video : Die Straßenbibliothek von Kindern vorgestellt