Armutsbetroffene beraten Politik
15. Europäische Volksuniversität Vierte Welt im Europawahljahr
Unter dem Motto „Für ein Europa, das niemanden zurücklässt“ meldeten sich europäische Bürgerinnen und Bürger zu Wort, um ihre Interessen zu vertreten und die Politik zu beraten – bei der 15. Europäischen Volksuniversität Vierte Welt, die am 6. Februar 2019 beim Europäischen Parlament in Brüssel stattfand, in bewährter Weise organisiert vom Europa-Team der Internationalen Bewegung ATD Vierte Welt.
Die ca. siebzig mehrheitlich armutsbetroffenen Delegierten kamen diesmal aus acht Ländern: Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Luxemburg, Niederlande und Rumänien. Sie hatten jeweils eines von drei Themen bearbeitet:
- Die Auswirkungen der nationalen und europäischen Politik auf das Familienleben von Menschen mit Armutserfahrung,
- Das Recht auf rechtliche Existenz,
- Indikatoren für Armut und soziale Ausgrenzung in Europa.
Auch ATD Vierte Welt in Deutschland entsandte eine Delegation. Vorstandsmitglied Annette Rodenberg hatte in Verbindung mit dem f.i.t.-Projekt „Sichtbar aber auch nicht stumm“ (http://www.fit-projekte.de/content/sichtbar-aber-auch-nicht-stumm ) in Naila bei Hof eine Vorbereitungsgruppe gebildet, die das erste der drei Themen bearbeitete. Die Gruppenmitglieder konnten durch die von ihnen gewählten Delegierten ihre Erfahrungen, Erkenntnisse und Vorschläge in Brüssel einbringen.
Aus eigener leidvoller Erfahrung hatte ein Familienvater dafür plädiert, dass auch ein Teil von Erbschaften während des Leistungsbezuges als Schonvermögen angesehen werden sollte, wie es bei Ersparnissen vor Eintritt des Leistungsbezuges gelte. Wenn dieses Prinzip dann auch auf andere Einnahmen wie Zuverdienst, eigene Rentenansprüche, Mütterrente, Elterngeld, Geschenke, etc. angewendet würde, könnte eine gewisse Rücklage für Notfälle auch nachträglich erworben werden. Dadurch würden armutsbetroffene Menschen etwas weniger unter Druck und Angst stehen.
Die Hoffnung auf einen Ausweg aus der Armut verbindet sich in betroffenen Familien auch mit dem Heranwachsen der Kinder. Wenn ein Sohn erstmals Geld verdient, wird diese Einnahme im Rahmen der „Bedarfsgemeinschaft“ in die Berechnung der Regelsatz-Leistungen einbezogen. Der Bericht der Familienmutter Susan El-Sayed aus Deutschland über die Folgen dieser Rechtslage für ihre Familie hinterließ einen starken Eindruck und wurde durch ähnliche Erfahrungen aus Belgien bestätigt. So wurde deutlich, dass die familiäre Solidarität leidet und oft sogar zerbricht, wenn der Staat sie erzwingen will, um Leistungen zu sparen.
Marlies Osenberg, ebenfalls Mitglied der deutschen Delegation, berichtete von einer Frau mit sieben Kindern, der die Mütterrente nichts gebracht hatte, weil alles mit der Grundsicherung verrechnet wurde – ein besonders krasses Beispiel dafür, dass familienpolitische Fortschritte offenbar gerade den Ärmsten nichts nützen. Letztlich stellten die deutschen Delegierten nicht nur die „Bedarfsgemeinschaft“ in Frage, sondern auch den Grundsatz, wonach die „Stütze“ nachrangig zu allen anderen Einkünften gewährt wird. Und sie standen damit nicht allein!
Allerdings scheint von den eingeladenen Europaabgeordneten aus Deutschland niemand die Chance, die eine solche Volksuniversität darstellt, wahrgenommen zu haben. Umso beachtlicher war, dass Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier (nach einem Gesprächstermin mit Jean-Claude Juncker und dem irischen Premierminister Varadkar) noch in die Plenarsitzung kam und seine Unterstützung ausdrückte.
Die drei Delegierten aus Deutschland zogen im Rückblick eine insgesamt positive Bilanz der Reise. Für Annette Rodenberg war es wichtig, „dass unsere Problemanzeige einen starken Eindruck hinterlassen hat und dass dabei die Erfahrungsberichte von mehreren Personen aus unserer Arbeitsgruppe eine wichtige Rolle spielten, indem sie vorgetragen und gehört wurden.“ Marlies Osenberg fügte hinzu: „Durch die gute Moderation wurden die Erfahrungen und Vorschläge immer mehr präzisiert und dann durch eine Person von außen zusammengefasst; so wurde auch uns selbst noch klarer, was unsere Vorschläge bedeuteten.“ Und Susan El-Sayed, das dritte Mitglied der Delegation, fasste zusammen: „Man hat uns angehört, und wir konnten unsere Punkte klarstellen – so dass andere von uns etwas Neues gelernt haben. Wir haben neue Leute kennengelernt, die auch etwas zu sagen haben – auch wichtige Leute, die das Gesagte weitertragen. Das zeigt, dass man etwas erreichen kann, wenn man will. Wir können stolz auf uns sein!“
Das Schluss-Memorandum, in dem die geleistete Arbeit und die sich daraus ergebenden politischen Vorschläge umfassend dokumentiert werden, kann als pdf-Dokument heruntergeladen werden.