Mit Joseph Wresinski unterwegs zu einer neuen Achsenzeit

von Chen Yueguang,

früherer zweiter Vorsitzender der Stiftung für die Entwicklung der chinesischen Jugend, stellvertretender Direktor des Instituts Chinesischer Kultur, und Generalsekretär der Dunhe Stiftung1
In seinem Videovortrag auf dem Kolloquium von Cerisy2 drückt der Autor seine Überzeugung aus, dass die Menschheit am Vorabend einer neuen Achsenzeit3 steht, die sie, wenn sie überleben will, erleben wird, wenn sie sich um die Ärmsten sammelt und sich mit ihnen vereint. Auf diesem Weg scheint ihm Wresinskis Gedanke ein wesentlicher Bezugspunkt zu sein.
Dieser Vortrag wurde leicht gekürzt auf französisch in der Revue Quart Monde No. 244 vom April 2017 veröffentlicht und am 15 juin 2018 ins Internet gestellt. URL : https://www.revue-quartmonde.org/6987. Vom Chinesischen ins Französische übersetzt von Yang Shwu-Shiow, S. Lamontagne, M-C. Hendrickx, P-H. Debruyn, vom Französischen ins Deutsche übersetzt von Christof Heimpel.

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Meine Begegnung mit der Vierten Welt ist in erster Linie eine Begegnung auf der Ebene des Denkens. Deshalb frage ich mich bei der Lektüre von „Die Armen sind die Kirche“4 nach diesen beiden Logiken des Denkens von Père Joseph: konfessionell und interkonfessionell.

Eine konfessionelle Logik

Die Grundlage der konfessionellen Logik Père Josephs – die des Christen – ist, dass „die Armen der Weg zu Christus sind“. Was ist sein Argument?  Père Joseph sagt:

„Wenn ihr nicht unter den Armen lebt, wie Christus es tat, werdet ihr Christus nicht verstehen können. Wenn wir uns von Gott, dem Vater, distanziert haben, dann gerade deshalb, weil wir uns von den Armen distanziert haben.“

Warum?

Heute können wir den Weg des Kreuzes, den Christus zu seinen Lebzeiten zurückgelegt hat, nicht in Fleisch und Blut nacherleben, aber ein Teil der Menschheit leidet weiterhin in seinem Fleisch, wie Christus es getan hat, unter täglichem Leid, Erniedrigung und Ausgrenzung. Das ist ihr tägliches Leben, sie haben es sich nicht ausgesucht. Deshalb braucht sich der Christ die Passion Christi nicht durch religiöse Bücher vorzustellen, denn in der realen Welt werden die Menschen Tag und Nacht gequält. Und ihre Qualen sprechen von der Passion Christi.

In diesen Tagen, da in China Sommer ist, wird das ganze Land von Überschwemmungen heimgesucht. Wenn bei einer Überschwemmung eine Person ins Wasser fällt und ertrinkt, wie können wir ihr dann helfen? Normalerweise bleiben wir am Ufer, um die Hand auszustrecken, was gut genug ist. Aber es gibt Menschen, die ins Wasser springen werden.

In der Vergangenheit blieben diejenigen, die den Armen helfen wollten, am Ufer, um die Hand auszustrecken. Aber Père Joseph – und diejenigen, die ihm folgen – haben sich dafür entschieden, ins Wasser zu springen. Was bedeutet das? Man wird nass, man wird selbst zu einer Person im Wasser, man kämpft mit der ertrinkenden Person darum, gemeinsam ans Ufer zurückzukommen.

Eine interreligiöse Logik

In dieser Welt sind zwei Drittel der Bevölkerung keine Christen. Die Tatsache, sich selbst in den Armen zu erkennen, Christus in ihnen zu erkennen, ist also nicht für jeden selbstverständlich. Der Buddhist kann dem nicht zustimmen. Der Atheist glaubt nicht daran. Der Konfuzianist kann das nicht akzeptieren.

Ich versuche also, die interreligiöse Logik von Père Joseph zu verstehen. Er sagt uns, dass die Bewegung Vierte Welt interreligiös, interpolitisch, und nicht akonfessionell, unpolitisch ist. Das bedeutet, dass er weder das Bekenntnis noch die Politik ablehnt. Im Gegenteil, Menschen aller Glaubensrichtungen, aller politischen Positionen können innerhalb derselben Bewegung gefunden werden. Hier gibt es keine Grenzen.

Was sagt Père Joseph? „Die Ärmsten sind die Zeugen unserer Aufrichtigkeit.“ Ist sein Argument stichhaltig? Er sagt auch: „Armut ist das Versagen der ganzen Gesellschaft, aber nur die Armen tragen das Leid dieses Versagens.“ Heute erkennen immer mehr Menschen, dass die Armut nicht den Armen angelastet werden kann und auch nicht deren Schuld ist. Wenn ein Teil der Menschheit die Last des Scheiterns einer ganzen Gesellschaft trägt, ist er dann nicht der inklusivste? Ist er nicht das Gewissen der Gesellschaft?

Wie können wir von dieser Beobachtung ausgehend vorankommen? Welche Bedeutung hat sie für diese Welt?

Dialog zwischen den Zivilisationen

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts besteht ein wachsender Bedarf an einem Dialog zwischen den Zivilisationen, Religionen und Völkern. Père Joseph sagt uns, dass Menschen unterschiedlichen Glaubens das gleiche Zeugnis haben: „Die Ärmsten sind die Zeugen unserer Aufrichtigkeit.“ Genau dieser Punkt ist die Grundlage für einen möglichen Dialog zwischen den Zivilisationen.

Wir alle, ob mit oder ohne Bekenntnis, können uns an diesem Punkt wiederfinden und an das Ende unserer Überzeugungen gehen. Und dann werden wir sagen können, wie Joseph:

„Du bist ein Jude, ich werde mit dir ein Jude sein; du bist ein Muslim, wir werden zusammen Muslime sein.“

Wir können hinzufügen:

„Wenn du Buddhist bist, werde ich Mitgefühl mit dir praktizieren; wenn du Konfuzianer bist, werde ich mit dir den Sinn für Menschlichkeit kultivieren.“

Ich stellte mir die Frage: Existiert die Menschheit nur als ein Wort, das in einem Text geschrieben steht, ohne Bedeutung, oder stellt sie wirklich eine Menge von Menschen dar? Nur den Ärmsten ist es zu verdanken, dass das Wort Menschlichkeit eine Bedeutung erlangen kann. Nur die Ärmsten werden als Zeugen unserer Aufrichtigkeit in der Lage sein, zu beglaubigen, dass wir tatsächlich eine Menschheit sind. Nur wenn jeder von uns bis zum Ende seiner Überzeugungen geht, wird die Menschheit als Ganzes auftreten können. Deshalb ist es die Hauptgrundlage des Dialogs zwischen den Zivilisationen, die Ärmsten als Zeugen unserer Aufrichtigkeit zu nehmen.

Wenn wir uns weiterhin Fragen über die Vierte Welt stellen wollen, müssen wir ständig zu Père Joseph zurückkehren, zu dem, was er darüber denkt.

Zu Beginn dieser Übung sprach ich über seine beiden Logiken, eine konfessionell auf seinen christlichen Gedanken basierende, die andere überkonfessionell. Nun müssen wir uns fragen, wie die Methodik aussieht. Was sind die Ansätze?

Die Wresinski-Methodik

Zuallererst muss man „den Mut haben, sich zu blamieren“. Dies sind die von Père Joseph selbst verwendeten Begriffe. Den Mut, sich zu blamieren. Er sagt auch: „Sein Leben zu geben, ist ein Menschenrecht.“ An wen richtet er diese Worte? Natürlich an die Volontäre (Freiwilligen). Die Volontäre sind auch selbst arm geworden, sie sind ins Wasser gesprungen und kämpfen zusammen mit denen, die ertrinken. In diesem Sinne sind auch sie hilfsbedürftig geworden. Aber man könnte sagen, dass Père Joseph sich auch an die Basismitglieder wendet. Sie sind bereits mittellos: Wenn sie sich selbst geben wollen, haben sie nur noch ihr Leben zu geben. Père Joseph wendet sich auch an die Verbündeten. Auch wenn sie noch nicht an dem Punkt sind, an dem sie mittellos werden, ist Verbündeter zu sein auch eine Form der Hingabe.

Wenn wir nach diesem ersten schwierigen Schritt weiter gehen wollen, worauf sollten wir uns dann konzentrieren? Es ist die Familie, um die wir uns Sorgen machen müssen. Père Joseph sagt: „Die Familie, der sakramentale Ort par excellence“. Man könnte hinzufügen, dass die Familie ein heiliges Land ist, das heiligste aller Länder.

Wahrscheinlich ist die moderne Gesellschaft im Westen nicht auf dem Familienmodell aufgebaut. Aber in der traditionellen chinesischen Gesellschaft wird die Gesellschaft von der Familie aus aufgebaut. Die Familie ist der Ausgangspunkt für die Bildung des Individuums. Durch die Familie lernt ein Mensch die vier sozialen Richtlinien kennen: Riten, moralischer Sinn, Ehrlichkeit und Anstand5. Innerhalb der Familie gestaltet der Mensch seinen Weg; nachdem er eine harmonische Familie aufgebaut hat, ist er dann bereit zu regieren.

Wenn wir von der modernen Gesellschaft sprechen, betonen wir allzu oft die Rechte des Einzelnen. Père Joseph möchte, dass wir zur grundlegenden Basis des Individuums, d.h. der Familie, zurückkehren. Denn in der Familie werden Liebe, Wohlwollen, Unterstützung und Aufmerksamkeit für andere verwirklicht.

Für seinen dritten Schritt schlägt Père Joseph eine konkrete Methode vor: Er bittet die Volontäre, das Leben der Ärmsten zu teilen und es aufzuschreiben. Er bittet sie, denjenigen zuzuhören, die ein zerbrochenes, zersplittertes Leben führen, ohne sie zu unterbrechen, ohne sie zu hinterfragen, ohne zu urteilen, ohne Fragen zu stellen, ohne Lektionen zu erteilen oder zu tadeln. Mit dieser Methode versucht Père Joseph, die Geschichte zu vervollständigen. Denn bis heute ist die Geschichte der Menschheit unvollständig: Es fehlt die Geschichte der Armen. Wenn wir die Geschichte der Armen nicht verstehen, werden wir uns selbst nicht verstehen können.

Auf dem Weg zu einer neuen Achsenzeit

Damit kommen wir zum vierten Schritt, der den politischen und sozialen Aspekt berücksichtigt: den Ärmsten Priorität einzuräumen. Aber wie können wir diesen Punkt in der Philosophie erklären?

Ich habe mich schon immer für das interessiert, was man „die Achsenzeit“ nennt. Dies ist der historische Zeitraum von 800 bis 200 vor Christus, der die Geburt von Zivilisationen markiert. Wir wissen, dass in dieser Zeit, 800 v. Chr., am Eingang des Tempels von Delphi die berühmte Maxime „Erkenne dich selbst“ eingraviert wurde. Zur gleichen Zeit, in China, schrieb Laozi 750 v. Chr. in seinem Daodejing (Buch des Weges und der Tugend): „Wer sich selbst kennt, ist erleuchtet“. Dieselbe Idee wurde im Westen und im Osten fast zur gleichen Zeit geäußert, während die einen von der Existenz der anderen nichts wussten. In dieser Zeit stellten die Menschen, ohne einander zu kennen, die gleiche Frage: Das Leben ist schwierig, wie können wir über dieses zeitliche Leben hinausgehen?

Heute wissen Christen, Muslime, Buddhisten, wir alle, dass es die anderen gibt. Deshalb können wir sagen, dass wir in eine neue Achsenzeit eintreten: Völker verschiedener Zivilisationen werden gemeinsam versuchen, über sich hinauszugehen und diese Fragen zu beantworten: Woher kommen wir? Wo gehen wir hin? Wie gehen wir über dieses zeitliche Leben hinaus? Wir wollen uns diesen Fragen nicht allein als Einzelne, sondern als Menschheit stellen.

Wenn wir an diesem Punkt in Begriffen der Menschheit denken, haben wir Recht, wenn wir sagen, dass ein verlorenes Schaf bedeutet, dass eine ganze Herde verloren ist. Die Würde eines Teils der Menschheit, die mit Füßen getreten wird, ist die Würde der gesamten Menschheit, die mit Füßen getreten wird. Dieses verlorene Schaf, dieser der Würde beraubte Teil der Menschheit, ist der Sammelpunkt für die gesamte Menschheit.

Wir bewegen uns auf eine neue Achsenzeit zu: Die Menschheit als Ganzes wird der Ewigkeit nur dann ins Auge sehen können, wenn sie sich mit den Ärmsten vereint.

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1 Die 2012 gegründete Dunhe Foundation ist eine private Stiftung, deren Mittel aus privaten Spenden (20 Millionen RMB) stammen. Ihre Aufgabe ist es, die chinesische Kultur und die Harmonie zwischen den Menschen zu fördern. Ihre Ziel ist es, aus der orientalischen Weisheit zu schöpfen, um in verschiedenen kulturellen Bereichen zu arbeiten und die Entwicklung der Menschheit maßgeblich zu beeinflussen.

2 Internationales Kolloquium, das vom 6. bis 13. Juni 2017 im Internationalen Kulturzentrum von Cerisy-la-Salle in Frankreich stattfand. 80 Wissenschaftler, Praktiker und in Armut lebende Menschen aus 15 Ländern tauschten sich über das Thema „Welches Elend gibt uns Anlass, mit Joseph Wresinski neu zu denken“ aus. Historische, erkenntnistheoretische und praktische Ansätze, um die Herausforderungen der Armut zu begreifen und über Wege zu ihrer Beseitigung nachzudenken.

3 Die „Achsenzeit“ ist ein von dem deutschen Philosophen Karl Jaspers vorgeschlagenes Konzept, das die Geschichte der Philosophie und der Religionen betrifft. Die Achsenzeit betrifft die Jahre 800 – 200 vor Christus.

4  Die Armen sind die Kirche, Gespräche mit Joseph Wresinski über die Vierte Welt, NZN Buchverlag, 1998, Die folgenden Zitate gehen auf die chinesische Übersetzung dieses Buches zurück.

5  lĭ yì lián chĭ: „Riten, moralischer Sinn, Ehrlichkeit und Anstand“, so lauteten die vier sozialen Richtlinien (siwei) des idealen Staates nach dem Legisten Guan Zhong (? – 645 v.   Chr.), der während der Frühlings- und Herbst-Periode in China Regierungschef des Staates Qi war. Er führte Reformen durch, die den Staat in den Rang der mächtigsten der damaligen Zeit erhoben.

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